19. Februar 2012
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"Niemand kommt rein und setzt sich hin
Den Fuß auf'n Tisch, Hand unter's Kinn
Niemand isst hungrig mein Frühstücksmenü
Niemand kommt immer zu früh
Niemand, ich habe Geschenke für dich
Was wär ich geworden, gäb es dich nicht
Meine gesammelten Werke - bitte sehr
Alles gehört dir
Niemand, niemand kennt mich wie du
Unbedingt, ich geb alles zu
Keine Enttäuschung, kein einziges Mal
Aber dir ist eh alles egal
Niemand, siehst du's, ich wachse nicht mehr
Meine Hände sind Füße, Niemand, schau her
Bald bin ich nichts und das, was dann bleibt
Ist deine Wenigkeit
Niemand, was, was willst du?
Immer bist du hier
Niemand, was, was willst du?
Von mir?
Von mir?
Von mir?"
Den Fuß auf'n Tisch, Hand unter's Kinn
Niemand isst hungrig mein Frühstücksmenü
Niemand kommt immer zu früh
Niemand, ich habe Geschenke für dich
Was wär ich geworden, gäb es dich nicht
Meine gesammelten Werke - bitte sehr
Alles gehört dir
Niemand, niemand kennt mich wie du
Unbedingt, ich geb alles zu
Keine Enttäuschung, kein einziges Mal
Aber dir ist eh alles egal
Niemand, siehst du's, ich wachse nicht mehr
Meine Hände sind Füße, Niemand, schau her
Bald bin ich nichts und das, was dann bleibt
Ist deine Wenigkeit
Niemand, was, was willst du?
Immer bist du hier
Niemand, was, was willst du?
Von mir?
Von mir?
Von mir?"
Der Song "Walzer für Niemand" befindet sich auf dem 2009 erschienen Debüt-Album der im Jahr 1983 geborenen Schweizer Musikerin Sophie Hunger "Monday's Ghost".
Der Text ist irritierend.
Nur ein Wortspiel? Walzer für Niemand? Also für Keinen? Oder doch für jemanden? Für wen?
Dieser "Niemand" zeigt durchaus Präsenz. Starke Präsenz:
Er fläzt sich hin und isst ihr Frühstück
Sie beschenkt ihn reich - er bekommt alle ihre Werke.
Sein Einfluss ist groß:"Was wär ich geworden, gäb es dich nicht..."
Sie fühlt sich durchschaut - "niemand kennt mich wie du"....und dann ist ihm "alles egal".
Sie engt sich ein, sie wächst nicht mehr, sie macht offenbar alles, um diesem "Niemand" zu gefallen.... eine sehr intensive Bindung, mittlerweile aber fatal geworden...
Denn: Von ihr ist nichts mehr da, nur noch er - seine Wenigkeit.
Und letztlich weiß sie nicht, was er von ihr will, der immer anwesende "Niemand", immer bist du hier. Was will er? Das ist nicht klar...
Eine solche Beziehung kann nicht funktionieren. Gleichberechtigung? Wohl eher nicht. Achtung? Sie ja, vor "Niemand", und dieser "Niemand"? Achtung vor ihr? Wertschätzung?
Also, ich sage mal, nein, hat er nicht.
Denn wie er sich dahin fläzt und sich alles von ihr nimmt, sie gibt und gibt, und er?
Er nimmt sich, was er braucht. Sie hat eine Funktion. Was auch immer - es geht um seine Bedürfnisse...
Sie macht sich kleiner, hört auf zu wachsen, und ist bald nichts mehr, etwa nur noch ein Häuflein Elend? Wer weiß...Freiheit? Eigene Interessen haben, Austausch? Nein, nichts dergleichen. Ein vernichtendes Urteil jedenfalls. Sie macht alles, damit es funktioniert, vermeidet fehler, vielleicht, weil er sonst seine "Liebe" entzieht, in Wut ausbricht?
Er hat sie "verschluckt", nutzt sie gnadenlos aus. Ohne Rücksicht auf Verluste. Eine fatale symbiotische Beziehung. Er ist sie und sie ist er...die Grenzen verschwimmen.
"Niemand" ist aber kein starker Charakter - er scheint furchtbar gesichtslos, zu sein, ist jetzt sie, lebt ihr Leben, das sie so weggegeben hat, damit das "funktioniert" alles.
Meine ganz persönliche, mit der Künstlerin nicht abgestimmte Lesart ist diese:
"Niemand" leidet an einer Persönlichkeitsstörung.
Und sie ist co-abhängig.
Die Beziehung ist bereits am Ende. Zu oft rastet er aus, manipuliert, verletzt, und sie deckt sein Verhalten, bestärkt ihn - unbewusst - in seiner Krankheit. Sie ist süchtig nach ihm. Emotional oder sexuell abhängig?
Indes - der Bruch steht bevor. Wie oft schon hat er sie abgewertet, wie oft wieder idealisiert, um sie dann wieder bei der kleinsten Möglichkeit abzuwerten?
Es ist F 60.31, die emotional-instabile Persönlichkeit, Borderline-Typus nach der ICD-10-Klassifizierung der WHO.
Damit sieht es wie folgt aus:
F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung nach ICD10
Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung. Es besteht eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren. Ferner besteht eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden.
Zwei Erscheinungsformen können unterschieden werden:
Ein impulsiver Typus, vorwiegend gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle; und ein Borderline- Typus, zusätzlich gekennzeichnet durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen, durch ein chronisches Gefühl von Leere, durch intensive, aber unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen.
F60.31 Borderline Typus
Einige Kennzeichen emotionaler Instabilität sind vorhanden, zusätzlich sind oft das eigene Selbstbild, Ziele und “innere Präferenzen” (einschließlich der sexuellen) unklar und gestört. Meist besteht ein chronisches Gefühl innerer Leere. Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten emotionalen Krisen führen mit übermäßigen Anstrengungen, nicht verlassen zu werden, und mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden Handlungen (diese können auch ohne deutliche Auslöser vorkommen
Mindestens drei der oben unter F60.30 B. erwähnten Kriterien müssen vorliegen und zusätzlich mindestens zwei der folgenden Eigenschaften und Verhaltensweisen:
- Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und “inneren Präferenzen” (einschließlich sexueller);
- Neigung sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen;
- übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden;
- wiederholt Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung;
- anhaltende Gefühle von Leere.
Quelle: ICD10 der WHO
Parallel dazu besteht ein Kategorisierungssystem aus den USA, "DSM IV".
Die Systeme werden bei der Diagnostizierung alternativ, teilweise parallel angewandt, weil dieses Störungsbild ausgesprochen schwer zu erfassen und zu diagnostizieren ist.
Nach den DSM IV-Kategorien müssen fünf von neun Kategoien erfüllt sein. Die Kategorien insgesamt:
1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. z.B. klammerndes Verhalten, Suizidandrohungen.
2. Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist . Eine Person wird nur als “gut” gesehen und entsprechend idealisiert. Dieselbe Person kann nach kurzer Zeit aus unterschiedlichen Gründen abgrundtief gehasst werden, alle vorher festgestellten guten Eigenschaften sind vergessen.
3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. Ein Borderliner kann sich nicht selbst definieren. Es gibt Borderliner, die sich als Mensch definieren können, aber eine sehr gestörte Identität in Bezug auf ihr eigenes Geschlecht aufweisen, indem sie z.B. ihren eigenen Körper verachten. Sie verfügen auch in der Regel über kein stabiles Selbstbild und neigen zu extremen Minderwertigkeitsgefühlen. Sie glauben nicht an ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten und suchen deshalb immer wieder in ihrem Umfeld nach Bestätigung.
4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (außer Selbstverletzungen oder Suiziddrohungen). Drogenmißbrauch, riskantes Fahrverhalten, Tablettenmißbrauch, häufig wechselnde Sexualpartner ohne Rücksicht auf Infektionsrisiken etc.
5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. Neben Selbstmordversuchen sind Selbstverletzungen (SVV) bei Borderlinern sehr häufig anzutreffen. Viele fügen sich Schnittverletzungen hauptsächlich an den Armen zu.
6. Stark wechselhafte Stimmung. Mehrmalige grundlose Stimmungsschwankungen am Tag sind möglich, vom Hochgefühl bis hin zur Depression.
7. Chronische Gefühle der Leere. Viele Borderliner fühlen sich regelrecht wie Zombies. Sie haben keine spürbaren Empfindungen und fühlen sich selbst leblos.
8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren. Dies beschreibt Zustände von extrem starken Wutausbrüchen und aggressivem Verhalten, das in keinem Verhältnis zu der momentanen Situation steht.
9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. In belastenden Situationen können sich Borderliner verfolgt fühlen oder den Eindruck haben, daß sie jemand zerstören will. Auch können sie das Gefühl haben, sich von ihrem Körper zu entfernen, das Umfeld wird nur noch sehr fern und dumpf wahrgenommen. Diese Symptome verschwinden, wenn die Situation als nicht mehr bedrohlich oder belastend empfunden wird.
(Quelle: www.borderline-spiegel.de)
Das Störungsbild ist ausgesprochen vielseitig und schwierig zu diagnostizieren.
Die Ursache liegt oftmals in schweren traumatischen Erlebnissen in früher Kindheit, zB Misshandlung, sexueller Missbrauch. Es bestehen Parallelen zu den Folgen einer PTBS (posttraumatische Belastungstörung).
Bei allen Verletzungen der Angehörigen und Partner: Es ist eine Krankheit. Borderliner haben sich dies nicht ausgesucht.
Und: Der co-abhängige Partner hat oftmals selbst ein Trauma, einen unverarbeiteten Schmerz, an den der Borderliner erfolgreich anknüpfen kann.
Sie ist also co-abhängig, verschlungen in dem Hin und Her zwischen Idealisierung und Abwertung, gefangen in einer symbiotischen Beziehung, von der sie weiß, dass diese sie vernichtet, zerstört, aus der sie nicht wieder hinaus kann. sie ist, so wie sie sich aufgibt, beinahe genauso veranlagt wie "Niemand" der Borderliner. Erst klammert er, aus Angst, Verlassen zu werden. Dann stößt er sie weg, weil der fürchtet verschlungen zu werden, kann er die Nähe doch nicht aushalten, nach der er sich sehnt. Sein Wutausbrüche sind unberechenbar, furchtbar und verletzend.
Zu negativ? Vielleicht. Es muss so nicht sein, kann es aber.
Nun, bei Borderlinern git es solche und solche, je nachdem, welche Merkmale erfüllt sind. Es muss also nicht so sein, wie hier beschrieben. Gleichwohl ist weniger die Selbstverletzung typisch für Borderline, nicht jeder Borderliner verletzt sich selbst und nicht jeder, der sich selbst verletzt, ist Borderliner.
Ganz wesentlich ist oft das Nähe-Distanz-Problem, das Muster von wechselnden instabile, aber intensiven Beziehungen, das mangelnde Selbstwertgefühl, die fehlende Impulskontrolle, das fehlende "emotionale" Gedächtnis.
M.Kupfer